Samstag, 6. Juli 1991

John Zorn & Naked City: Musikalische Vielfalt im Comic-Stil

Zehn verschiedene Musikstile in fünf Takten — geht das? Schneller Punk und »Hardcore«-Musik, Strawinsky-Zitate und James-Bond-Filmmelodien, treibende Funkrhythmen und verklärt-lyrische Saxophonmelodien - paßt das wirklich zusammen?
Es paßt, und sogar hervorragend! Der New Yorker Komponist und Altsaxophonspieler John Zorn zeigte am Donnerstag zusammen mit seinem Bandprojekt »Naked City« in der wohlgefüllten Uni-Mensa in der Wilhelmstraße wieder einmal, daß auch die schrägsten Klangcollagen unterhaltsam, spannend, abwechslungsreich und dabei noch voll von persönlichem Ausdruck sein können — auf die Montage kommt es an.
Eingeladen zu dem Avantgarde-Ereignis hatte das »Zentrum Zoo«; in die schon vor Konzertbeginn brütend heiße Mensa gekommen war ein huntgemischtes Publikum: Da saß der hartgesottene Heavy-Metal-Freak neben dem durchgeistigten Indien-Experten, ältere Semester neben ganz jungen, Szene-Insider neben solchen, die immer bei einem Ereignis, das gerade »in« ist, zu finden sind. Und für fast alle boten Bandleader John Zorn und seine — auch von anderen Formationen bekannt-berühmten — Mitmusiker Bill Frisell (Gitarre), Wayne Horvitz (Keyboards), Fred Frith (Baß), Schlagzeuger Joey Baron und der junge Gast-Vokalist Mike Patton etwas.
Das längste Stück spielte die Band gleich zu Anfang: Ganze sieben Minuten lang tönten homogene, »schwarze« Tanzrhythmen aus den Lautsprecherboxen: schnell, exakt, und auf den Punkt gespielt — Aufwärmtraining für die allesamt technisch exzellenten Musiker vermutlich.
Danach ging es erst so richtig los: Knappe zwei Stunden lang ließ »Naked City« ihr Klangewitter auf die nicht nur von der Hitze in ihren Stühlen festgeklebten Zuhörern herunterdonnern. Die Stücke waren im Schnitt eine Minute lang, manchmal auch ein paar Takte länger, oft erheblich kürzer. Ähnlich der Arbeitsweise eines Videoclip-Regisseurs montiert Zorn Harmonien, Rhythmusmuster und Melodiekürzel zusammen. Die einzelnen Abschnitte sind kurz, das ganze Stil-Sammelsurium aus gut siehzig Jahren populärer Musik wird verwurstelt und äußerst dynamisch präsentiert.
Satt verzerrte, brachiale und gitarrenbetonte Hardrock-Fragmente a la »Led Zeppelin« während der ersten beiden Schläge eines Takts, zickige Filmmusik mit tausendfach gehörten Rock 'n' Roll-Schlagzeug-Klischees in den nächsten beiden; Tempo- und Taktwechsel, ein atemberaubendes Fill-In vom vor Spiellaune nur so sprühenden Schlagzeuger Joey Baron, atonales Saxophon- und Vokalkreischen Zorns und Pattons, zwei Takte astreiner Schlager aus den Fünfzigern, ein kurzes James-Brown Zitat, ein freies Zwischenspiel, zurück zu Heavy-Metal-Tönen — in rasenden, ständig wechselnden Tempi bastelten die Musiker ihr Puzzle zusammen.
Der musikalische Comic-Strip zog zwar die meisten Zuhörer in seinen Bann — etwas anfangen konnten sie allerdings nicht mit der Musik: Verwirrung, teilweise sogar Bestürzung war in vielen Gesichtern zu lesen. Die »Naked City«-Musik erfordert höchste Konzentration, und die zahlreichen Zitate aus fast allen Stilen sind erst dann so richtig witzig, wenn man die Vorlagen kennt.

John Zorn fordert mit seiner Konzeption die Zuhörer und wirft eingefahrene Hörgewohnheiten ständig über den Haufen. Der Bandleader in der Army-Winterkampfhose und "Free Tibet"- T-Shirt fläzt sich lässig auf einem Stuhl, beobachtet grinsend das Treiben seiner Mitmusiker und greift mit unauffälligen Finger- und Armbewegungen ins musikalische Geschehen ein, zeichnet Wechsel und Breaks an und motiviert den anfangs nervös wirkenden Mike Patton, doch noch ein wenig lauter und verzweifelter zu kreischen.
Zorns Instrumentalkollegen stehen scheinbar unbeteiligt auf der Bühne, mit einem dicken Stapel engbeschriebener Notenblätter vor sich. Wie eine präzise Maschine arbeitet die Band in notierten Songteilen, beweist auch bei Improvisationen, daß sie traumhaft eingespielt ist.
Fred Frith ist in Tübingen ein exakter Baß-Arbeiter und hält sich weitgehend zurück, Joey Baron leistet intelligente und abwechslungsreiche Schwerstarbeit und Wayne Horwitz steuert mit seinen computerunterstützen Keyboards die aberwitzigsten Effektldänge bei.
Der Meister selber greift vergleichsweise selten in die Saxophonklappen — aber wenn er spielt, sind berührende, nervöse, oft überblasene Melodielinien zu hören, die dann das übrige musikalische Geschehen überstrahlen.
Neben der Musik beim Tübinger Konzert ist auch die Arbeit der Tontechnikerin zu loben, die die äußerst dynamischen und klanglich vielschichtigen Aktionen auf der Bühne stets  klar durchhörbar und bei aller übermäßigen Lautstärke trotzdem immer transparent in der akustisch schwierigen Mensa abmischte.
John Zorn und seine Band haben sich offensichtlich wohl gefühlt in Tübingen: Die Gruppe ging weit über die vertraglich vereinbarte Spielzeit hinaus — das heißt etwas bei Musikern, die sich auch schon mal nach einer dreiviertel Stunde verabschiedeten.
Nach heftigem Geklatsche der Zuhörer vollzog »Naked City« um halb zwölf in der Zugabe noch einmal eine stilistische Wende: Sanfte, impressionistische Klangflächen entließen die durchgeschwitzten Zuhörer. (mpg)

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