Montag, 30. September 1991

Miles Davis: Superstar des Jazz gestorben

Von der internationalen Jazzwelt hat er sich schon vor einem Vierteljahr verabschiedet: In seinem Konzert auf dem Jazz-Festival von Montreux am 8. Juli ging er zusammen mit Quincy Jones und einer 50-köpfigen Big-Band zum Beginn seiner Karriere zurück und spielte Arrangements des legendären Gil Evans.
Die Neuinterpretationen seiner Erfolge — von »Birth of the cool« über »Boplicity« bis hin zu »Sketches of Spain«-Titeln — klangen zwar brüchiger als die Originalaufnahmen aus den späten vierziger und fünfziger Jahren, hatten aber nichts von der enormen Spannung und Intensität verloren, die der Jazztrompeter mehr als vierzig Jahre lang ausstrahlte.

Miles Dewey Davis ist tot; er erlag am Samstag in einem Krankenhaus in Santa Monica (Kalifornien) 65jährig den Folgen einer Lungenentzündung und eines Schlaganfalls.
Mit ihm hat die Jazzwelt ihren Superstar verloren.
Der »Prinz der Dunkelheit« stand 45 Jahre lang an der Spitze, er war nie unbeachtet Die Musik des Trompeters war immer wichtiges und mitunter kontrovers diskutiertes Thema der Szene. Miles Davis prägte nach Bebop-Anfängen zusammen mit Charlie Parker und Dizzy Gillespie in den frühen Fünfzigern den Cool Jazz mit, lotete wie kein anderer modale Spielkonzepte aus und zog sich zu Beginn der siebziger Jahre den Zorn seiner alten Fans mit elektrifizierter, Soul und Rock aufgreifender Musik zu.
In den letzten Jahren begeisterte der auch modisch öfters stilprägende Musiker immer mehr junge Popfans und verschreckte wieder eingefleischte Jazzpuristen, die seiner Gratwanderung zwischen Pop und Jazz nicht folgen mochten. Insgesamt 90 Langpielplatten verzeichnet seine offizielle Diskographie.
Am 25. Mai 1926 in Alton, Illinois, geboren, spielte Miles 1944 im Orchester von Billy Eckstine und ging bald darauf nach New York Ein Jahr später wirkt er bei den ersten Bebop-Aufnahmen mit — sein scheinbar unterkühlter Trompetenklang, vibratolos und die unteren Register bevorzugend, erschien zusammen mit seinem weichen Ansatz völlig neu. Auf »The Birth of the Cool« produzierte er zusammen mit Lee Konitz, Gerry Mulligan und dem Arrangeuer Gil Evans stilbildende ruhige Klänge, die den aggressiven Bebop-Linien diametral gegenüberstanden. Die Europäer feierten den »coolen Miles«, daheim in den USA wurde seine Musik nicht weiter beachtet. 1955 zeigt es Miles allen: Die Quintett-Aufnahmen für die Firma »Prestige« gehören heute noch zu den allerbesten des Jazz überhaupt Für Louis Malles Regiedebüt »Fahrstuhl zum Schafott« spielte Miles live die Musik ein.
1960 nimmt er »Sketches of Spain« auf, verbindet europäische mit afroamerikanischen Elementen und lotet das modale Spielkonzept, das auf festgelegte Tonleitern im herkömmlichen Sinn verzichtet, weiter aus. Mit dem Aufkommen des Free Jazz geht auch Miles immer näher an die Grenze zur Atonalität heran, überschreitet sie aber nie: »Frei spielen ist einfach, Mann — was du brauchst, ist kontrollierte Freiheit«, sagt er.
In den folgenden Jahren tauchen immer mehr Blues-, Soul- und Funk-Elemente in seiner Musik auf. Miles hat mal wieder »New Directions« entdeckt, neue Richtungen, die in den Alben »In a silent way« und »Bitches Brew« zu musikalischen Höhepunkten, schlüssigen und energiereichen Verbindungen zwischen Rock und Jazz geführt wurden. In den siebziger Jahren häufen sich die Probleme für den inzwischen auch finanziell zum Superstar aufgestiegenen Trompeter, der schon zwanzig Jahre vorher an Heroinsucht gelitten hatte: Operationen an Galle und Hüfte, mehrere Autounfälle, Verhaftungen wegen Kokain- und Waffenbesitzes, enormer Alkohol- und Tablettenkonsum. Eine Konzerttournee durch Japan steht Miles Davis nur mit Morphium durch; er bekommt eine schwere Lungenentzündung. Von 1976 bis 1980 kapselt er sich in seinem Haus ein: »Ich war total gelangweilt«.
Vor zehn Jahren gelang ihm mit jungen Musikern ein furioses Comeback - Miles machte da weiter, wo er aufgehört hatte. Sein eleganter Popjazz verzichtete auf Schnörkel und brachte musikalisch die Dinge auf den Punkt. Miles, der früher gegenüber Publikum und Kritik extrem feindselig reagierte, war in seinen letzten Jahren von gelassener Heiterkeit erfüllt, trat häufig in Europa auf und erzählte sein interessantes Leben in einer Autobiographie. »Das Beste liegt, glaube ich, noch vor mir«, meinte Miles Davis vor ein paar Monaten. Wer weiß? (mpg)

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In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...