Dienstag, 23. Februar 1993

Joan Baez: Faszinerendes Blumenkind

»Es schneit — und doch ist das heute der erste sonnige Tag in Deutschland. Schon komisch für so ein california girl wie mich.« Lediglich mit diesen Worten zeigte Joan Baez dem aufmerksamen und begeisterten Stuttgarterter Publikum, daß sie die Disco-Tour in Mannheim nicht kalt gelassen hatte.
In zwei Tanztempel der badischen Industriestadt wurde die nur äußerlich leicht ergraute wichtigste Folk-und Protestsängerin der 60er Jahre — obwohl als Berühmtheit erkannt — gar nicht erst hinein gelassen. »Das sind mir viel zuviele Ausländer auf einmal«, lieferte ein Türsteher der Musikerin als Begründung.
Daß nicht alle Deutschen so denken wie dieser Mann, wollte am Sonntagabend ein Paar in der völlig ausverkauften Stuttgarter Messehalle B. noch einmal verdeutlichen: Als Joan Baez »Gracias a la vida« sang, enthüllten die beiden ein Transparent mit erklärenden Worten in Spanisch.

Die scharfe Protestattitüde der frühen Förderin Boh Dylans (ohne Joan Baez' Hilfe wäre der Mann nie so schnell berühmt geworden) ist einer ruhigen, selbstsicheren Gelassenheit gewichen — den Eindruck hatte man jedenfalls nach dem 75minütigen Konzert auf dem Killesberg.
Mit einer kleinen (Elektrobaß, Perkussion mit Conga-Schwergewicht, akustische Gitarre), aber wirklich enorm feinen Begleitgruppe präsentierte die ehemalige Führerin der außerparlamentarischen Opposition in den USA »samm old schtaff änd se nju schtaff tuu«. Nicht nur einen bayerischen Fan, der ihr Sohn hätte sein können, parodierte die Baez phonetisch witzelnd; nölend veralberte sie schon im zweiten Lied die eigenwillige Phrasierung ihres alten Freunds Dylan.
Das »neue Zeug« von dem aktuellen Album »Play me backwards« — der Titelsong hat Mißhandlungen an Kindern zum Thema - klingt keinesfalls abgedroschen. Den Vorwurf, sich vor allem in der Studioarbeit in den letzten Jahren im Kreis zu drehen, mußte sich Joan Baez gefallen lassen. Mit dem neuen Material, in den Arrangements zwischen Country und New-Orleans-Musik (manchmal klang's nach den »Neville Brothers«) gehalten, will die Sängerin vermutlich auch die Pophörer um die zwanzig ansprechen.
Joan Baez ist gereift, ohne Frage. Aber das faszinierendste Element ihrer Bühnenpersönlichkeit, die helle, klare Stimme mit dem unverwechselbaren Tremolo, ist über dreißig Jahre unverändert geblieben. Bei »Farewell Angelina« war das ganz deutlich und bei dem altbekannten »House of the rising sun« (der Titel war auf ihrer Dehüt-LP aus dem Jahr 1959 drauf) noch mehr.
Was für eine Kraft und Ausstrahlung diese Stimme hat, merkten jene, die es nicht schon längst wußten, im Gospelsong. »Swing low, sweet chariot« sang Joan Baez a cappella und ohne Mikrofon. Die Stuttgarter haben sie auch so verstanden. (mpg)

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In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...