Mittwoch, 30. Dezember 1992

Bodo Kirchhoff: Mit poetischer Sprachkraft

Rund 70 Besucher kamen in die Reutlinger »Osiander«-Buchhandlung, um den Autor Bodo Kirchhoff aus seinem neuen Roman »Der Sandmann« lesen zu hören.
Nachdem Kirchhoff (bekannt geworden ist er mit »Infanta») das wackelige Knautschkissen vorlesegerecht ausbalanciert und auf Wunsch einer Zuhörerin die helle Leselampe blendfrei verstellt hatte, ging's los. Aus dem wohlmodulierenden Mund des Autors erfuhren die Zuhörer von einem Radiosprecher, der mit seinem Sohn im Flugzeug nach Tunis sitzt. Mit seiner Frau hat er sich verkracht, jetzt ist er auf der Suche nach Helen. Sie, ein Mädchen, das Sohnemann Julian beaufsichtigt hatte, soll in der Medina wohnen.
Aus dem Hotel ist Helen ausgezogen. Die Besitzerin, der gegenüber sich der Protagonist als Helens Onkel ausgibt, zeigt ihm beschriebene Blätter. Darauf beschreibt das Mädchen das Jahr mit dem Vater des kleinen Manns, auf den sie aufpasste.
Bodo Kirchhoff erzählt fesselnd und lebhaft betonend von Julian, der dauernd Papierflieger basteln will, und schildert plastisch und witzig einen schrulligen Deutschen, der sich als Exilant fühlt. Graffiti-Pionier in der ehemaligen DDR war der, »aus Prinzip« lebt er nicht in seiner Heimat und Schreiben tut er sowieso: »Wer schreibt nicht im Exil?«, läaat Kirchhoff ihn fragen.
So wie Julian immer mehr dem Exilanten zugeneigt ist — schließlich faltet der Mann Fliegerchen mit Rekord-Gleitwerten — entdeckt sein Vater (in Gedanken zwischen Helen und seiner Frau Christine hin- und her gerissen) die Lust an der Liebe mit der Hotelbesitzerin neu.
Mit einer leisen, dennoch kraftvollen und sehr verspielten Schilderung eines gedehnten Geschlechtsakts der beiden beendet Kirchhoff seine Lesung — genau an einer Stelle, wo diejenigen Zuhörer, die den Roman noch nicht gelesen haben, fragen müssen: »Und wie geht's weiter?«
Eine spannende und gutgeschriebene Geschichte, ein deutlich (und schön laut) artikulierender Autor, der Abend konnte wirklich die Lust am Lesen wecken. Die an der allgemeinen »Diskussion« mit dem Autor dagegen nicht. Kirchhoff hat die Zähigkeit und Unergiebigkeit solcher Fragerunden wohl schon oft erlebt. »Wir können ja miteiander reden, während ich die Bücher signiere«, meinte er nach gut 75 Minuten.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 30. Dezember 1992

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