Nur ahnen konnten die rund 800 im Hegelsaal der Stuttgarter Liederhalle, wie gut Pianistin Geri Allen aufgelegt war. Ihr Spiel ging genauso im - von Rhythmik und Harmoniegerüsten völlig losgelösten - allgemeinen Getöse unter. Genauso ging es Basser Charnett Moffett: Nur bei einem fantastischen Solo am Ende des knapp einstündigen Sets zeigte der Mann Klasse. Coleman selbst stand mit völlig unbewegter Miene da, pustete Schrilles aus der "Kanne"; sein Sohn bewegte sich - frei von rhythmischen Mustern - am Schlagzeug. Es war halt echter Freejazz, was die vier da machten; Musik aus einer Zeit, in der der Glaube an unkontrollierte Freiheit als musikalisches Heil für viele Jazzer noch fest und stark war...
Alles unter Kontrolle hatte der aus Freiburg stammende Bassist Dieter Ilg. Sein Eröffnungskonzert mit dem locker aufspielenden Pianisten Marc Copland, dem rhythmisch raffinierten Jeff Hirshfield am Schlagzeug, Saxophonist Bob Beiden und Gitarrist Vic Juris ließ eine sehr kompakt aufeinander eingespielte Mannschaft hören, die irgendwo zwischen swingendem Hardbop und Electric Jazz ihr ureigenes Konzept überzeugend präsentiert.
Musikalisch zum vielseitigsten, emotionalsten (und trotz extremer Komplexität immer leicht goutierbaren) Konzert des zweiten "Jazz Open"-Tags geriet der eineinhalbstündige Auftritt von Rabih AbouKhalil. Der in München lebende, nicht nur deutsch perfekt sprechende libanesische Oud-Virtuose hatte diesmal sein "Perfume Project" mitgebracht.
Alle Jahre wieder gastiert Abou-Khalil mit hochkarätigen Musikern in Stuttgart - aber so toll wie diesmal hat seine musikalische West-Ost-Connection noch nie geklungen.
Das lag natürlich an Sax-Star Charlie Mariano, der sich genauso mühelos in die zwischen arabischen und afroamerikanischen Traditionen pendelnden Kompositionen einfügte wie die All Star-Rhythmusgruppe mit Mark Nauseef (Schlagzeug), Conga-Spieler Milton Cordona und "Frame Drum"-Spezialist Nabil Khaiat.
Das lag aber auch an dem, was Howard Levy mit seinen Mundharmonikas anstellte. Er wechselte die Klangfarben wie kaum ein anderer auf diesem Instrument, ließ es mit Hilfe eines Kaffeebecher-Dämpfers einer Violine täuschend ähnlich klingen. Seine bluesigen Impressionen paßten hervorragend zu dem wie immer mitreißenden Federkiel-Gezupfe Abou-Khalils auf seinem bauchigen Instrument.
So ist schlichtweg nur mit Ignoranz zu erklären, daß viele Stuttgarter Jazzfans (mal wieder, man kennt's) kurz vor Mitternacht das Feld räumten - und die tolle Musik des "Perfume Projects" gar nicht mitbekamen. Die Standhaften wurden mit Zugaben und Applaus seitens der Musiker entlohnt. (mpg)