Dienstag, 13. Juni 1995

Le Mystere des Voix Bulgares: Die Schönheit des Fremden

Egal, ob es »Le Mystere des Voix Bulgares« war oder »Angelite«, wie sich der ehemals staatliche Rundfunk-Frauenchor Bulgariens jetzt nennt: Fasziniert hat beim ersten Konzert des »10. Internationalen Tübinger Festivals« der Reiz und die Schönheit des musikalisch Fremden.

Das »Zentrum Zoo« hatte zum Chorkonzert der zwei Dutzend folkloristisch gekleideten Sängerinnen in die Tübinger Stiftskirche eingeladen. Ein weiser Entschluss: Das Ambiente passte sowieso und der lange Nachhall förderte die »mystische« Wirkung des oft strahlend hart klingenden Chors.

Die Frauen sangen — unterstützt von fünf Musikern auf altem, landestypischem Instrumentarium — rund zwei Stunden lang Volkslieder. Kaum zu glauben für westlich trainierte Ohren: Die vielen Modulationen, Viertel- und Achtelton-Verschiebungen, die oft halsbrecherisch schrägen Rhythmen haben in unserer Musiksprache (und der afroamerikanischen) mehr mit zeitgenössischer Kunstmusik zu tun als mit »schalkhaften Chorliedern« oder Melodien, die sonst zum tradierten Reigentanz erklingen.



Den höchstens 350 Besuchern in der knapp zur Hälfte gefüllten Stiftskirche kam es vor wie Musik von einem anderen Stern. Sie labten sich an schwebenden Dissonanzen, an den oft völlig unvermuteten Einsätzen — und natürlich an dem strahlenden Klang des sehr dynamisch singenden Chors.

Die Stimmen — vor etwas mehr als fünf Jahren dankbar aufgenommene »Ethno«- Entdeckung des westlichen Musikmarkts — klingen deswegen so eigenartig, weil die Tonerzeugung anders funktioniert. Der Gesang ist »ungestützt«, wird nicht von einem trainierten Zwerchfell getragen, sondern nur von Kehlkopf und dem resonierenden Kopf erzeugt. So sind die Obertonreihen anders angeordnet, die Stimmen klingen direkter.

Und dazu kommt etwas, was der ehemalige Produzent des Chores, der bulgarische Musikwissenschaftler Vladimir Iwanow »Musik einfach so« nennt. Die Stücke besitzen nicht das westliche »System von Nacheinander, Ordnung und Intervallpräzision. Musikalisch wollen die Lieder auch nicht unbedingt irgendwohin, irgendwo ankommen und alles durchdringen. Der Bewegungsverlauf ist gleichmütig«.

Gleichmütig war auch der Verlauf des Konzerts. Wenn sie nicht gerade im Halbkreis gruppiert sangen, verbeugten sich die Choristinnen unter dem Applaus des Publikums: Die fremde Schönheit kam in Tübingen an. (mpg)

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...