Montag, 4. September 1995

Erste Allgemeine Verunsicherung: Grober Klamauk

Keine drei Dutzend Zuschauer wollten die »EAV« am Sommeranfang in Tübingen sehen. Am Freitag dagegen war Münsingen-Böttingen restlos zugeparkt, rund 1 600 Fans wollten sich die »Nie wieder Kunst«-Show der »Ersten Allgemeinen Verunsicherung« ansehen. Die Organisatoren vom SV Böttingen haben offenbar auch als Konzertveranstalter ein gutes Händchen.

Klaus Eberhartinger und Co. lieferten-  fast ist man geneigt zu sagen: wie gewohnt — im bestens beschallten Festzelt eine durch und durch professionelle Show ab. Sowohl musikalisch als auch optisch präsentierten sich die Grazer Spaßvögel ohne Fehl und Tadel. Klar: Die »EAV« hat 18 Jahre gemeinsame Bandgeschichte auf dem Buckel. Hunderte von Konzerten schaffen eine lässige Routine.

In Böttingen geht's vor begeistertem Publikum, das oft mitklatscht und beliebte Textpassagen mitsingt, ohne Pause Schlag auf Schlag. Einem Medley mit den erfolgreichsten Hits wie »Ba-Ba-Banküberfall« oder »Kerkermeister« folgen dann längere Passagen des aktuellen Albums »Nie wieder Kunst«. Stücke wie »The Frogs Are Coming — auf der Bühne mit heftigem Rumgehüpfe der Musiker als Stoff-Frösche visualisiert — oder »300 PS«, das den Autowahn aufs Korn nimmt, kommen beim Publikum auf der Alh allerdings längst nicht so gut an wie die Nummern aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre.

Vieles, was der textende Gitarrist Harald Spitzer neu geschrieben hat, wirkt im Vergleich zu den Wortspielereien beispielsweise der »Heissen Nächte von Palermo« (eine Zugabe) flach und blass. Aber die Neonazi- und Nationalisten-Absage »Eierkopf-Rudi« ist dann wieder textlich wie musikalisch ein Knaller. Besonders Gitarrenfreaks werden hier mit verzerrtem Heavy-Gesäge bedient.

»Wie liefern eine Bockwurst mit dem einen oder anderen Klatsch scharfen Senf«, haben die Rock-Komiker in ihrer erfolgreichsten Zeit einmal zu Protokoll gegeben. Milder, wesentlich milder ist der Senf 1995 nach drei Jahren Band-Pause geworden. Die Parodie der »Wildecker Herzbuben« und anderer volkstümelnder Heile-Welt-Spezialisten der »EAV« hat einen Beigeschmack: Mit ihrem über weite Strecken durchgehendem Vierviertel-Gestampfe, mit ihren Mitsing-Refrains und der gnadenlos plakativen Bühnenshow setzen die Osterreicher doch weitgehend aufs selbe Rezept.

Ihre nach wie vor technisch souveräne Musikalität, ihre einmalige Mischung aus Absurdität und kurz aufblitzendem Tiefsinn, aus spitzer Ironie und gröbstem Klamauk ist halt stark von der Stimmung abhängig — und über Jahre hinweg pausenlos witzig texten kann kein Schreiber.

Mal sehen, was die EAV im nächsten Jahr bringt. Eins ist aher jetzt schon sicher: Die 1600, die in Böttingen begeistert nach Zugaben klatschten, werden wieder live dabeisein
wollen. (mpg)

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...