Montag, 19. Februar 1996

Nguyen Le: Virtuos, aber wenig emotional

Über diesen Mann sind sich die Jazzfreaks (eigentlich) einig: Nguyen Le, in Paris lebender Vietnamese, zeigt Gitarrenkünste wie sonst derzeit keiner, wird von manchen gar als Jazz-Offenbarung gehandelt. Ein ganz großes Ereignis für die regionale Hörergemeinde also, das Sondergastspiel des schmächtig wirkenden Instrumentalisten mit seinen zwei Begleitern Dieter Ilg (Kontrabaß) und Danny Gottlieb (Schlagzeug) im Reutlinger »Jazzclub in der Mitte«.

Zustandegekommen ist das Ausnahmekonzert — Musiker von solchem Kaliber zu engagieren, kann sich die »Mitte« sonst eigentlich kaum leisten — übrigens durch die Vermittlung des Reutlinger Bassisten Tobias Festl und dessen ausgezeichnete Kontakte zur internationalen Musikerszene.
Der Jazzkeller war mit weit mehr als hundert Besuchern fast überfüllt, schon eine Dreiviertelstunde vor Beginn des ersten Sets kam keine und keiner mehr rein: Die Jazzclub-Chefetage hatte die Schotten dicht gemacht.




Vor dem Konzert äußerten die drei Jazz-Stars, so war zu hören, noch Unmut über die aus ihrer Sicht qualitativ ungenügende Haus-Verstärkeranlage. Später klang's in der »Mitte« eigentlich sehr gut: Nguyen Le eröffnete mit schwebenden, klaren Sampler-Sounds, die er über seine Midi-Gitarre ansteuerte, und ging in spannende Rhythmusmuster über, deren Klänge ein wenig an balinesische Orchester erinnerten.
Mal klang's bei Nguyen Le nach eben solchen »Ethno«-Schnipseln, mal ein wenig — wegen der eingesetzten Flächen-Sounds - nach Pat Metheny. Der eine fühlte sich - wie der zuhörende Reutlinger Gitarrist Gino Samele - an den frühen John Scofield erinnert, der andere hörte metallische Anklänge an Mike Stern heraus.

Und gegen später schlich sich sogar eine Blues-Coda ein, die mit ihrem röhrend verzerrten Klang und kräftigem Saiten-Ziehen des Meisters so wohl auch Jimi Hendrix gefallen hätte.
Immer stand Le eindeutig im Mittelpunkt, spielte im Vergleich zu den anderen beiden die meisten Noten. Die außergewöhnlichen Skalenspielchen und harmonisch ungewöhnlichen Verbindungen mögen die pure Offenbarung für Saitenjünger gewesen sein — langweilten aber, weil halt auch beliebig, zumindest den Rezensenten stellenweise arg.

Da war nämlich — bis auf ein Stück vor der Pause, wo Le in der gemeinsamen Improvisation mit dem wie so oft ausgezeichneten Dieter Ilg über ein Funk-Riff wirklich er selbst zu sein schien — wenig Individuelles zu hören. Daß der Vietnamese mit brillanter technischer Begabung Einflüsse aus allen Ecken aufgesogen hat, ist erfreulich — nur sollte dabei halt auch was eigenständiger Klingendes herauskommen.

So spielten die drei zwar sehr virtuos (»Gedudel!«, urteilte eine »Mitte«-Besucherin zwischendurch), aber musikalisch nicht sehr emotional. Und die Griffbrett-Feuerwerkerei des Chefs war zwar glanzvoll anzuschauen, wärmte aber nicht.(mpg)

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In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...