»Musik beginnt nicht mit dem ersten Ton, sondern mit der Stille davor«, sagt Giora Feidman, der Klarinettenvirtuose. Bei seinem Gastspiel am Samstag in der fast ausverkauften Reutlinger Listhalle hätte man die herühmte Nadel fallen hören können, bevor der klare, strahlende Ton des begnadeten Musikers aus der Stille kam. Und Feidman (wie immer) durcn die Publikumsreihen nach vorne auf die Bühne schlenderte.
Wen wundert's, daß der 60jährige gebürtige Argentinier, der heute weltweit als »König des Klezmer« gefeiert wird, seine Fans und deren donnernden Applaus schon nach dem ersten Song-Block mit sachter, aber bestimmter Geste bremsen musste? Schon bei den zahlreichen, ebenfalls vom »Zentrum Zoo« angebotenen zurückliegenden Gastspielen des Musik-Magiers in der Stiftskirche Tübingen zeigten sich die Zuhörer geradezu süchtig nach stilistisch so weitgefächerten, immer in höchstem Grad sanglichen Klarinetten-Tönen.
»Is ojs Musik«, weiss Feidman — und die Reutlinger wissen es ebenfalls, spätestens nach dem zweistündigen Konzert. Jiddischer Folk als Schwerpunkt, dazu ein Gershwin-Medley, »Prager« und »Donna Donna« mit homogenem Publikumschor, Schuberts Heidenröslein und das Deutschlandlied, ganz sacht und verhalten: »Is scheen!«
Viel Neues gab's für Kenner Feidmans, der wieder mit seinen langjährigen Begleitern Joseph Basar (Gitarre) und Anthony Falanga (Kontrabass) auftrat, zusätzlich noch den soliden Tabla-Spieler Brad Catler eingeladen hatte, diesmal also nicht zu hören.
Aber: So, wie der Meister spielte, könnte er wahrscheinlich mit einer einzigen Note lange fesseln: Er benutzte seine verschiedenen Instrumente als direkte Verlängerung seiner Stimmbänder, gibt praktisch jeden denkbaren Ausdruck menschlichen Empfindens eine eigene Tonfärbung.
Dass der Beifall für Giora Feidman und seine Begleiter donnernd laut war und das Publikum hingerissen, ist klar, oder? (mpg)
Montag, 6. Mai 1996
Giora Feidman: "Is ojs Musik"
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