Montag, 8. Juli 1996

AfroBrasil Tübingen '96: Fröhlicher Ausnahmezustand

Nasses Pflaster, dunkelgrauer Himmel. Lange sah's so aus, als ob die Party mit Musik aus Salvador da Bahia ausfallen würde. Aber der Zuständige unter den brasilianischen Gottheiten hatte ein Einsehen: Pünktlich zu Beginn des »Fest'in Bahia« lachten Sonnenstrahlen.

Am Samstag blieb es trocken, und der erste Tag des größten Brasil-Open-airs in Europa geriet zum rauschenden Fest. Schnell füllte sich zu dem extrem perkussiven Sound der Eröffrituigs-Band »Bolacha Maria« der Marktplatz. Aus wenigen hundert wurden Tausende — und dann bot sich dem Beobachter das gewohnte Bild.

Tanzvergnügen und Brasil-Ekstase pur beherrschten die nächsten sieben Stunden weitgehend die Szenerie. Zumal am Samstag bahianische (Karnevals)-Musik angesagt war. Bei drei der vier Einzelkonzerte stand die Party im Vordergrund.

Die jungen — und mit modisch avantgardistisch anmutenden Blechtrichter-BHs bekleideten — Frauen von »Bolacha Maria« erwiesen sich als geübte Anheizer. Alleine zehn Trommlerinnen sorgten beim ersten Europa-Konzert für verzahnt-mitreißende Rhythmen zwischen Samba, Latin und Reggae. Ein schräg-karibischer »Fool On The Hill« oder »Oye como va« waren die Höhepunkte.

Berührende Szenen gab's beim Konzert des exzellenten Saiten-Virtuosen Armandinho. Der brasilianische Schnellfinger-Gitarrero hatte nämlich seinen (von den Landsleuten verehrten und heißgeliebten) Vater Osmar, den Erfinder des »trio eletrico«, mitgebracht. Als der fast erblindete Greis lächelnd zum Bandolin, einer Mini-Gitarre, griff, liefen vielen Tränen der Rührung über die Wangen.

Nach der kunstvollen Vorstellung Armandinhos und seiner Band war mit »Banda Cheiro De Amor« und »Banda Relogio« wieder Tanzen angesagt, und das taten die Fans auf dem Marktplatz mit gewohnter Ausdauer und Heftigkeit. Superstar Gilberto Gil war diesmal zwar nicht persönlich dabei, aber doch zumindest musikalisch anwesend. Beide Bands brachten mehrfach Cover-Songs des weltberühmten Tübinger »Stammgasts«.



Zum Abschluss dieses »Fest'in Bahia« kamen Osmar und sein Sohn noch einmal zu den anderen auf die Bühne; mit emporgereckten Armen grüßte die Legende Osmar die Tübinger Fans.

Weil die Trommler von »Timbalada« auf der Autobahn hängengeblieben waren, verschob sich der Start des zweiten Afrobrasil-Tages um eine knappe Stunde — und Daude machte den Anfang. Die Sängerin und Performerin, die selbst in ihrer Heimat noch als brandheisse Neuentdeckung gilt, begeisterte mit Ausstrahlung, Können und einer Band, bei der das Attribut »perfekt« nicht übertrieben ist.

Mit viel Gespür für theatralische Dramatik — Daude begann ihre Bühnenkarriere als Schauspielerin - und bezwingend natürlich absolvierte die in Rio und Paris lebende Künstlerin ihren Marktplatz-Auftritt.
Daudes Musik, eine höchst eigenwillige Mischung aus brasilianischer Tradition und afroamerikanischen Stilen wie Funk, Rap und Soul, schlägt souverän eine Brükke zwischen den Kulturen — ohne jemals beliebig zu klingen. Die Tübinger jubelten, und Daude rief ihren vielen neugewonnenen Fans »Ich liebe euch« zum Abschied zu.

Hatte das Wetter bis dahin noch gehalten, begann beim erneuten Auftritt der Perkussions-Spezialisten von »Timbalada« der langanhaltende Dauerregen. Anderswo wäre die Stimmung in den Keller gegangen, aber nicht beim Afro-Brasil-Fest. Hier herrschte fröhlicher Ausnahmezustand. Die tanzende Masse ließ sich die gute Laune nicht verderben und freute sich über Sängerin Cesaria Evora, die als nächste auf die Bühne trat. Das Open-air-Fest endete mit dem umjubelten Konzert von Milton Nascimento. (mpg)

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...