Die Zuschauer beim Tübinger Afro-Brasil 1996 ließen sich 75 Minuten von der einmaligen Stimme und der absolut fesselnden Ausstrahlung des Übervaters der brasilianischen Musikszene begeistern.
Von dem Moment an, wo Milton Nascimento und seine langjährigen, schlichtweg in jeder Hinsicht perfekten Mitmusiker auf die Bühne kamen, war das Wetter Nebensache. Selbst der Berichterstatter hat erst hinterher gemerkt, dass er patschnaß geregnet worden war.
Das »Amigo«-Projekt, das Milton jetzt bei seinem zweiten Tübinger Konzert (1988 war er schon mal da; damals im Schloßhof) vorstellte, wäre schon ohne das Charisma des vor allem von US-Jazzern wie Wayne Shorter oder Herbie Hancock hochgelobten Stars aus dem Bundesstaat Minas Gerais in der Tat einmalig gewesen. Einmalig als Musikereignis im deutschen Sprachraum (sonst nur in Montreux und London zu hören) — und einmalig, was die Musikalität der Mitwirkenden anbetrifft.
Milton brachte nämlich zwei Kinder- und Jugendchöre mit, die seine Lieder — in Tübingen brachte er im wesentlichen eine »Best of«-Auswahl bereits von ihm geschriebener und gesungener Titel — mit grosser Konzentration und dabei doch oft kindlicher Freude mitsangen.
Mit der Live-Platte gleichen Projektnamens, die Nascimento schon Ende 1994 in Belo Horizonte hat mitschneiden lassen, war das Tübinger Konzert nur bedingt zu vergleichen.
Milton brachte in Tübingen mehr Bekanntes — und außerdem konnte er das riesige Streichorchester, das auf der CD für schillernde Tonfärbungen im Sinne der klassischen Romantik sorgt, natürlich nicht mit
auf seine Welttournee nehmen.
Deswegen standen musikalisch neben ihm selbst die Kinder im Mittelpunkt. Und wie so oft, wenn strahlend helle Kinderstimmen erklingen, gingen den Zuhörern schier die Herzen über. So begeistert und hingerissen wie dieses Publikum hat in Tübingen schon lange keines mehr applaudieren (können).
Milton — der als eher kühler und distanzierter Charakter gilt — genoss das Ganze sichtlich, trieb mit bubenhaft verschmitzt lächelndem Gesichtsausdruck versteckte Scherze mit Dreikäsehochs aus dem Chor, tanzte zwischendrin ausgelassen und wurde nicht müde, seine begeisternd virtuos und ungemein sensibel spielenden Mitmusiker zu loben.
»Ganz schön kurz«, mag einer zur Konzertdauer sagen, der nicht dabei war. Die Zuhörer auf dem Marktplatz haben am Sonntagabend aber am eigenen Leib erfahren, daß Qualität (im »Wirklichen Leben« wie in der Kunst) vor Quantität geht — fünf Minuten Nascimento machen die kompletten Pop-Hitparaden vergessen.
Und den Tübinger Festivalgästen ist es so ergangen wie den vielen Verehrern des Weltstars zu Hause in Brasilien: Nascimentos Stimme und seine atemberaubenden Kompositionen lassen den Alltag vergessen. (mpg)
Dienstag, 9. Juli 1996
Milton Nascimento: Stimmwunder
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