»Standing ovations« in Tübingen für den Übervater der brasilianischen Musikszene: Auch wenn das Konzert von Superstar Caetano Veloso und Band nicht wie angekündigt das einzige in ganz Deutschland war, gab's für die restlos begeisterten Zuhörer im ebenso restlos ausverkauften »Foyer« hundert ziemlich einzigartige Konzertminuten zu erleben.
Zu Hause singen die Menschen auf der Straße die Lieder des Mittfünfzigers aus Bahia nach, Intellektuelle rühmen die poetische Kraft und den Bilderreichtum seiner Textzeilen.
Und auch musikalisch ist Caetano — selbst im hochbegabten Umfeld der brasilianischen Szene — ganz ohne Zweifel eine Nummer für sich. Gleichzeitig enorm traditionsbewusst (Veloso gilt nicht nur in der Praxis, sondern auch in musikwissenschaftlicher Sicht als Experte der Tonkultur seines Landes) wie auch hochgradig experimentierfreudig, bringt der ehemalige Philosophiestudent locker die halbe westliche Popkultur, »klassische« wie jazzige Elemente und Strukturen zitierende, in seinen Song-Kleinodien unter — ohne jemals seinen ureigenen »Sound« zu verlieren.
Die vielen Brasilianer im »Foyer« fühlen sich offensichtlich ganz wie daheim — und singen die schon lange bekannten Hits von Veloso mal leiser, mal lauter mit. Der Song »Haiti« von der »Tropicalia 2«-Platte in einem luftig-leichten Arrangement und seine ganz großen Hits wie »Sampa« oder die musikalisch hinreißend zwischen »Beatles«- und Kinderliedharmonien pendelnde Geschichte vom kleinen Löwen, »0 Leaozinho«, kommen besonders gut an.
Aber die Fans strahlen eigentlich nur an diesem Abend und beklatschen jedes Lied dieser »Fina Estampa«-Show, in der Veloso (wieder einmal) auch frühere Tophits gleichermassen der brasilianisch- wie spanischsprechenden Szene in neuem Gewand präsentiert, aufs heftigste.
Und Caetano, der im hocheleganten, weinroten Anzug zwischen seiner exzellenten Band tanzt, fühlt sich im »Foyer« offensichtlich ebenso wohl wie seine Zuhörer. Lange scherzt er mit seinen Landsleuten, scheint locker und gelöst. Seine langjährigen Musiker, allesamt Könner auf ihren Instrumenten und begnadet musikalisch, spielen Musik, die von Anfang bis Ende spannend und sehr dynamisch ist — und gleichermaßen die kleinen grauen Zellen beschäftigen wie zu Herzen gehen kann. Und in die Beine sowieso — aber das ist bei der unwiderstehlichen brasilianischen Spielart des swing eh klar.
Da ist zuallererst das überaus sensible und doch kraftvolle, sehr ausdrucksstarke
Cellospiel von Jacques Morelenbaum zu nennen. Der Musiker, der bei Caetanos erstem Tübingen-Abstecher nach der mitreißenden »Circulado Vivo«-Show auf dem Marktplatz über sein angebrochenes Edel-Instrument in Tränen ausbrach, konnte diesmal ohne Malheur von der Bühne gehen und lieferte — auch als Kontrastpart zu Caetanos weitreichender Stimme — gleichermaßen rhythmisch wie auch melodisch Allerfeinstes.
Zu dem Gitarrenspiel Velosos selbst (er betont sehr lässig klingend auf seinem Instrument; wer's nachzuspielen versucht, weiß um seine komplizierten Rhythmus-Hakenschläge . . .) gesellte sich zurückhaltend; aber nicht minder exzellent gespielt die Saitenarbeit von Luiz Brasil.
Zeca Assumpcao am Kontrabaß und Drummer Marcelo Costa erwiesen sich in der Fülle der Metren, die Caetano verwendete, absolut firm. Und speziell der Schlagzeuger beeindruckte mit der Art und Weise, wie er mit vergleichsweise wenigen Einzelinstrumenten oft (zum Beispiel bei dem Perkussions-Schlußteil von »Haiti«) eine sehr dicht gewebte Klangfülle erreichte. Zusammen bildeten alle eine wie selbstverständlich groovende Einheit: Spitzenklasse! (mpg)
Dienstag, 5. November 1996
Caetano Veloso: Jedes Lied ein Fest
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