Mittwoch, 9. Juli 1997

AfroBrasil Tübingen '97: Carlinhos Browns unbändiger Samba-Funk

So eine AfroBrasil-Show gab's auf dem Tübinger Marktplatz noch nie zu sehen: Carlinhos Brown, der momentane Motor in Brasiliens Produzenten-Szene, brachte mit seiner hochenergetischen Samba-Funk-Show die Fans noch schneller als alle Brasil-Stars in hemmungslos ausgelassene Tanz-Ekstase — und setzte dem diesjährigen »AfroBrasil«-Festival des »Zentrum Zoo« auch in musikalischer Hinsicht die Krone auf.

»Bahias Hansdampf in allen Gassen« - knapp 30 brasilianische Nummer-Eins-Hits hat er innerhalb der letzten Dekade veröffentlicht — war mit mehr als einem Dutzend hervorragender Musiker nach Tübingen gereist — und nicht nur in Bezug auf die Ensemble-Grösse erinnerte die schon vor dem Konzert prächtig aufgelegte Musiker-Clique an die von George Clinton.

Wie beim durchgeknallten amerikanischen Funk-Vater brachten sich Instrumentalisten und Tänzer lange vor dem — verspäteten — Gig hinter der Bühne tanzend und singend in Stimmung, wie der Steuermann des »Mothership of Funk« setzte auch Carlinhos Brown auf Power pur: Wer nicht dabeigewesen ist, kann die unbändige Energie, mit der diese »Banda« ohne eine einzige Pause ans Werk ging, nur schwer nachvollziehen.

Drei Perkussionisten und ein Drummer, jeder einzelne für ein Extra-Konzert gut, woben in genialer Handarbeit einen extrem dichten, dabei bedingungslos groovenden Rhythmusteppich zwischen Samba, Funk, Reggae und swingender US-Jazzer-Tradition, die perfekt (und sehr »knackig«) arbeitende Bläser-Section gab dem Ganzen mal einen eher erdigen, dann wieder — mit jagenden Arrangements — einen durchgedrehten Anstrich.

Dazu lieferten sich die beiden Saiten-Jünger Juninho Costa und Roseval Evangelista im Verbund mit dem Chef heftigste Gitarren-Duelle mit und ohne Verzerrer-Turbo: Eine Band in der Band, die nicht nur technisch souverän aufspielte, sondern auch ständig — und wie nebenbei — Zitat-Splitter von Duke Ellington bis Miles Davis unterbrachte.

Das Kunststück des Arrangeurs Carlinhos Brown besteht darin, diese schier nicht zu bremsende musikalische Energie so im Kontext zu verteilen, dass nicht Chaos entsteht: Wer genau hinhörte (und das war anfangs schwierig, weil der brasilianische Tonmann die fremde Anlage nicht gewohnt war), konnte feststellen, dass jedes Solo, jedes Perkussion-Highlight passgenau in Tutti-Pausen eingefügt war — besser gemacht kann man sich's kaum vorstellen.

Zur Musik lieferten diese Hochgeschwindigkeits-Artisten eine nicht minder abwechslungsreiche, nicht weniger zwingende Show: Dauernd war Bewegung auf der Bühne — bis auf den Keyboarder und den Drummer absolvierten alle ihr enormes Musik-Pensum mit anscheinend unversiegender Tanzenergie.

Und Carlinhos Brown, der Mittdreissiger mit den langen, fliegenden Rasta-Zöpfen, spurtete mit Gitarre und Funkmikro unablässig von einer Bühnen-Ecke in die andere und scheute selbst den risikoreichen Kontakt mit der ausgerasteten Masse nicht. Leichtfüssig fast wie ein Eichhörnchen war er plötzlich von der Bühne auf die Absperrgitter gesprungen, hielt dort — von zwei schwitzenden Sicherheits-Leuten an den Fussgelenken gestützt — eine Weile singend die Balance, bevor er sich einfach ins Meer emporgereckter Arme warf.

Das Publikum zeigte sich in höchstem Mass euphorisiert — und Winfried Kast, der »Zoo«-Chef, schaute immer sorgenvoller auf die Uhr und nach dem Mann vom Ordnungsamt. Bis 22 Uhr war der Betrieb der Tonanlage genehmigt; hätte Rainer Kaltenmark, der städtische »Kontrolleur«, nicht nach einiger Diskussion ein Auge zugedrückt, wäre schon noch 25 Minuten mit der Fete Schluss gewesen. So gab Kast den etwas verdutzten Musikern erst kurz nach halb elf das Stopp-Zeichen — Carlinhos und Co. hätten mit ihrem Power-Samba wohl noch eine ganze Weile weitermachen können. Die johlenden, lange nicht zu beruhigenden Fans auch. (-mpg)

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In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...