Dienstag, 1. Juli 1997

Charlie Mariano: Charlie spricht

Ein Großereignis in der Jazz-Szene: die Stuttgarter Jazz Open '97 laden zu »Charlie Marianos Jazz World« ein dreieinhalb Stunden Livemusik mit, von und um den »elder statesman« des Jazzsaxophons.
Viele bekannte Kollegen des 73jährigen Musikers erweisen im Juli in der Liederhalle dem Meister ihre Reverenz: Trilok Gurtu, Dino Saluzzi, Wolfgang Dauner, Rabih Abou-Khalil und und und...Martin Gerner plauderte mit Mariano über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Dreieinhalb Stunden Live-Konzert, ein Mords-Streß?

Nee — ein Vergnügen. Ich seh da viele alte Weggefährten — und außerdem kann ich auch mit jungen, hervorragenden Musikern zusammenspielen, mit denen ich vorher noch nicht auf einer Bühne gestanden hin.

Was ist die Idee hinter diesem Abend?

Wir wollen die verschiedenen Phasen meiner Laufbahn zusammenfassen, das Ganze ist ein Trip durch das, was mir in meinem Leben passiert ist. Ich hab' ja 1941 nicht angefangen und mir gesagt: »Du wirst irgendwann mit Sicherheit die und die Sachen spielen«. Zuerst waren da nur die Bigbands, das hab ich bald gehaßt. Dann war Bebop angesagt, und Charlie Parker wurde mein Idol. Und dann hab' ich eine japanische Pianistin (Toshiko Akiyoshi, Anm. d. A.) kennengelernt, sie geheiratet und hin nach Japan gegangen. Da hörte ich dann ganz zwangsläufig asiatische Musik, was hätt' ich machen sollen (lächelt versonnen)...

Das hört sich alles sehr nach Zufall an ...

Ja klar, ich hab' in meinem Leben nie groß geplant, es hat sich alles immer irgendwie ergeben. Nach Europa kam ich, weil in den 70ern das Leben als Jazzmusiker in den USA verdammt hart wurde. In Deutschland bin ich wegen meiner dritten Frau hängengeblieben, außerdem waren die Deutschen am anständigsten und aufmerksamsten zu mir. Ausgerechnet hier hab' ich dann durch die Jungs von »Embryo« das indische Karnataka College of Percussion kennengelernt, und auch den Libanesen Rabih Abou-Khalil... Hab' ich was Wichtiges vergessen? Ach so - Argentinien: Dino Saluzzi traf ich in Stuttgart durch Wolfgang Dauner; Werner Schretzmeier vom Theaterhaus meinte, wir sollten mal ein Trio machen . . Wie gesagt: Alles Zufall!

Hat Mariano, der Wanderer zwischen den Welten, auch eine Lieblingsmusik?

Eigentlich nicht, es kommt ja dauernd (lacht) zufällig was Neues. Was den »Wanderer zwischen den Welten« angeht: Ich bin schon ruhiger geworden, hab' seit langem aufgehört, den Frauen nachzujagen, und bin sehr glücklich in Köln verheiratet.

Du bist Jazz-Nomade und Weltmusik-Experte. Was hältst Du von »Fusion«-Stilen?

Zuallererst: Das war meistens alles andere als leicht, sich in die fremde Musik einzufühlen, und oft merkt man erst nach Jahren, daß es doch nicht paßt. Die Nagaswaram (indische Flöte, Anm. d. A.) hab' ich jetzt, nach -zig Jahren, wieder weggelegt. In Indien fängt man das Instrument mit zehn Jahren an. Mir hat's irgendwann gedämmert, daß ich das nicht mehr aufholen kann.

Zu Deiner Frage: Ich mag die verschiedenen Sorten von »Fusion« überhaupt nicht. In der Regel werden da Musik-Welten zusammengeschmissen, die nicht zu vereinbaren sind. Und die Musiker können logischerweise nur nebeneinander her-, nicht miteinander arbeiten. Trotzdem hin ich kein Purist, ich mag fast alle Sounds auf dieser Welt.

In Europa bist Du die überragende Figur der Jazzszene, zu Hause in den USA nicht. Vermißt Du die Anerkennung Deiner Landsleute?

Nö. Außerdem ist es zwangsläufig, daß du in den USA schnell weg vom Fenster bist, wenn du nicht ständig vor Ort spielst.'Wenn ich dort Karriere hätte machen wollen, hätt' ich auf die ganzen Reisen verzichten müssen. Nein danke! Noch was: Ich hin vor einem halben Jahrhundert Musiker geworden, um mit Spielen meinen Lebensunterhalt zu verdienen — und ich hab' verdammt wenig Sachen spielen müssen, das meiste hab' ich freiwillig gemacht. und auch gemocht. Ich hin ein glücklicher Mensch, ich vermisse nichts. (mpg)

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...