Donnerstag, 30. April 1998

Dino Saluzzi: Bandoneon-Poesie

Andächtig ist die Stimmung im Tübinger »Zentrum Zoo«: Beim Gastspiel des weltberühmten Bandoneon-Virtuosen Dino Saluzzi aus Argentinien meint man, im Club die sprichwörtliche Nadel fallen zu hören. Die Gesichter der Zuhörer im nahezu ausverkauften »Zoo« spiegeln teils gespannte Konzentration, mehr aber noch versunkene Kontemplation.

Und der massig wirkende 63jährige Virtuose erwartet auch volle Aufmerksamkeit. Als eine Zuhörerin es kurz nach Konzertbeginn wagt, noch schnell vor der Bühne auf einen freien Sitzplatz vorbeizuhuschen, bekommt sie einen strengen Blick und ironisch verpackten Tadel vom Meister ab - »Cool«, kommentiert der.

Saluzzi, der hierzulande eigentlich erst richtig durch seine in den 80ern beginnende Zusammenarbeit mit dem Münchner »Kammerjazz«-Plattenlabel »ECM« bekannt wurde, mehr noch durch das auf den Meilensteinen »One Night in '88« und »Pas De Trois« dokumentierte Trio mit Wolfgang Dauner und Charlie Mariano, erzählt dann vorwiegend leise Geschichten auf seinem Instrument, beredt und verblüffend ausdrucksstark.

Eigentlich ist so ein Bandoneon — Nordlichter würden zu dieser Akkordeon-Spielart respektlos »Schifferklavier« sagen — ja von der Tonerzeugung her gesehen eine statische Sache: Metallzungen, durch die von Knöpfen gesteuert — mit einem Blasebalg komprimierte Luft strömt, sind mit einer Trompete oder gar einem Saxophon (wo die Verbindung zwischen Spieler-Gefühl und erzeugtem Ton viel direkter ist) nicht zu vergleichen.

Aber Saluzzi scheint auf und mit dem schlichten Kasten aus Holz, Metall und Stoff zu singen, trägt — so sehen es die zahlreich anwesenden Fans jedenfalls die reinste Poesie vor.

Er selbst bleibt weitgehend stumm, selbst die Ansagen beschränken sich an diesem Abend im Schleifmühleweg auf ein paar knappe Sätze. Nur Dinos Gesicht spricht bei seinem Spiel Bände, wenn er, im Rhythmus seiner abgezirkelten Kompositionen vor- und zurückwippend, den Stuhl zu liefern droht:
Da ist alles zwischen »himmelhoch jauchzend« und »zu Tode betrübt« abzulesen.

Und seine Musik beschränkt sich, aber gerade deswegen sind die Fans ja SaluzziLiebhaber geworden, längst nicht auf irgendeine Stil-Kategorie. Klar sind der Tango und verschiedene andere Folklore-Spielarten seiner Heimat immer präsent. Aber Saluzzi wechselt, manchmal unmerklich und formal immer perfekt gemacht, zwischendrin oft zu Blues und noch mehr zu Souligem, lässt eine breite Palette an Jazz-Einflüssen hören — und auch vieles, was an moderne »E«-Klassiker erinnert.

Damit zeigt er sich — wieder einmal als wahrer »Weltmusiker«. Er paßt in keine Schublade, für ihn müßte eigentlich ein eigenes Platten-Fach eingerichtet werden. Die Tübinger Zuhörer danken ihm sein rundherum feines und feinsinniges Konzert
mit begeistertem Applaus.
Autor: Martin Gerner

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In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...