Samstag, 13. Juni 1998

Guildo Horn: Guildo hat uns alle lieb

Die Stimmung im bis auf den allerletzten Platz ausverkauften »4. Tübinger Kulturzelt« ist gespannt und von erwartungsvoller Euphorie geprägt. Ganz Junge und auch gesetzte Damen und Herren querbeet durch alle modischen Strömungen sind gekommen, ihn zu erleben. Ihren selbsterkorenen »Meister« aller neuen deutschen Schlagerseligkeit, den schmalzenden Rebell wider alle Business-Etikette, den netten Menschen von nebenan mit schütterem Haupthaar und dezentem Schwabbelbauch: Guildo Horn ist auf seiner »Danke!«-Tour durch mehr als 100 Städte, und für gut zweieinhalbtausend ist alles andere als Tübinger Konzert-Routine angesagt.

Die Luft ist schon eine halbe Stunde vor dem angekündigten Konzertbeginn zum Schneiden dick, aber die Masse zeigt sich selbst von der Konservenbehandlung beeindruckt: Bei »YMCA« von »Village People« klatschen alle begeistert mit — und bei jeder Bewegung auf der Bühne geht ein Raunen durch die Menge.

Ein Helfer mit frischen Handtüchern bekommt Beifall.

Der steigert sich zum orkanartigen Jubel, als um viertel vor neun sich erst die »orthopädischen Strümpfe« und dann Horn selbst gegen die hingeklotzte Nebelwannd abzeichnen. Sakral mutet der Umhang des »Meisters« an, seine Gestik sieht fast segnend aus.

Die »Strümpfe« — fünf ausgebuffte Rock-Profis — legen donnernd los, Horn und seine Fans kommen bei »Wunder gibt es immer wieder« schon kräftig in Fahrt: Der Ex-Pädagoge verzerrt seinen Mund, als ob er nach Luft schnappen würde, die Haare fliegen wirr um den pathetisch nach hinten geneigten Kopf — und ein paar weibliche Besucher fangen doch tatsächlich zu kreischen an, als sich Horn gespielt lasziv an einem Masten der Scheinwerfer-Traverse räkelt.

Guildo hat uns, wie er immer wieder mit nur ein bißchen öliger Stimme versichert, »alle lieb« — und Steffi Graf ganz besonders. Bei dem — musikalisch von den »Bee Gees« geklauten — 94er-Erfolg steigt der Stimmungspegel spürbar an. Eine Nußecke ist dem »Meister« inzwischen auch aus dem Publikum gereicht worden — er bricht sie in zwei Hälften und sagt »Nehmet und esset davon«.

Guildos Fans steigen auf jede noch so deutlich platte Mitmach-Animation begeistert ein, brüllen immer wieder im Chor »Ausziehen, Ausziehen«, klatschen bei »Verdamp lang her« wie eine Horde wildgewordener, »Bap«-Fans und schlagen sich fast schon um das Feinripp-Unterhemd, das Guildo nach neckischer Stripandeutung ins Publikum wirft.

Der singt, was eh' schon jeder weiss: »Ich find' Schlager toll« — und will sich, nach einer langen Band-Vorstellungsrunde inklusive Hendrix-Gebrettere und »African Reggae«, nach 50 Minuten schon wieder mit »Vielen Dank für die Blumen« verabschieden.

Aber daraus wird nichts: Die Tübinger Schlagerfans stehen Kopf und klatschen sich gut 35 Minuten Zugaben heraus, bilden bei der langen »Hey Jude«-Session einen Chor, der fast lauter ist als die Band.
Als eines der letzten Dessert-Häppchen bringen Horn und seine »Strümpfe« den Udo-Jürgens-Klassiker »Aber bitte mit Sahne«. Zu einem Duett des »Meisters« mit Dieter Thomas Kuhn (der in einem Nebenzelt fleissig Autogramme pinselte) ist es nicht gekommen. (-mpg)

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...